Letta, Draghi, von der Leyen: Wie wird Europa wieder wettbewerbsfähig?

Die gemeinsame Abendveranstaltung der bayerischen Industrie- und Handelskammern und der EU-Repräsentation der Wirtschaftskammer Österreich am 24. September 2024 traf den Nerv der aktuellen Debatte in Brüssel und ganz Europa. Der Titel der Veranstaltung lautete: “Letta, Draghi, von der Leyen: Wie wird Europa wieder wettbewerbsfähig?“ Angesichts der geopolitischen Umbrüche und der globalen Herausforderungen, vor denen die EU steht, war dies ein brisantes Thema, das zahlreiche Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft gleichermaßen in die Bayerische Vertretung in Brüssel zog. Durch den Abend führte Sebastian Köberl von der Wirtschaftskammer Österreich. 

Vor knapp zwei Wochen veröffentlichte der ehemalige EZB-Präsident Mario Draghi den Bericht zur Zukunft der Wettbewerbsfähigkeit der EU. Damit baut er auf die Analysen vom ehemaligen italienischen Premierminister Enrico Letta auf, der erst im April diesen Jahres seinen Bericht “Much More than a Market: Speed, Security, Solidarity“ vorstellte. Zwei unterschiedliche aber komplementäre Versionen für die Zukunft Europas, die maßgeblich in die Schwerpunkte des Kommissionsprogramms 2024-2029 der jüngst wiedergewählten Kommissionspräsidentin Ursula van der Leyen mit einflossen. Die sogenannten Mission Letter von der Leyens an die 26 vorgestellten Kommissarinnen und Kommissare bestätigen dies.

Gemeinsame Forderungen und Unterschiede
Letta konzentriert sich auf den Binnenmarkt der EU und fordert eine tiefgreifende Reform, um die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Er sieht den Binnenmarkt als ein Werkzeug, das an neue geopolitische Realitäten angepasst werden muss. Dies erfordert eine klare Industriestrategie, Entbürokratisierung und eine Harmonisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen, insbesondere zur Unterstützung von KMUs (kleine und mittlere Unternehmen). Durch weniger bürokratischen Aufwand und eine Fragmentierungsvermeidung sollen Unternehmen in der EU effizienter agieren und global wettbewerbsfähig bleiben.

Draghi hebt drei große Themen hervor: die Innovationslücke, die Dekarbonisierung und die sicherheitsrelevanten Abhängigkeiten. Die EU müsse dringend international wettbewerbsfähige Energiepreise sicherstellen, da europäische Unternehmen im Vergleich zu US-amerikanischen Konkurrenten bis zu drei Mal höhere Energiekosten tragen. Er fordert daher eine differenzierte Industriepolitik, die den spezifischen Anforderungen und der Bedeutung der verschiedenen Wirtschaftssektoren Rechnung trägt. Zudem kritisiert er, dass Europa im Vergleich zu den USA und China stark hinterherhinkt, insbesondere in Zukunftstechnologien wie Künstlicher Intelligenz und Halbleitern. Draghi schlägt daher eine massive Investition von 750 bis 800 Milliarden Euro jährlich vor, um die Innovationskraft Europas zu stärken und Produktivitätsgewinne zu erzielen.

Beide Berichte stimmen darin überein, dass die EU tiefgreifende Reformen benötigt, um ihre wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und sich von Abhängigkeiten zu lösen. Sowohl Letta als auch Draghi betonen die Bedeutung eines stärker integrierten Binnenmarktes, einer verbesserten Kapitalmarktunion, weniger Bürokratie und stärkere Investitionen, insbesondere in Forschung und Innovation.

Kernpunkte der Podiumsdiskussion zur Zukunft Europas
Den Anfang machte Daniel Gros, Ökonom und Politologe an der Universität Luigi Bocconi in Mailand, mit seinem Impulsvortrag zur Wettbewerbsfähigkeit der EU. Er betonte die Notwendigkeit einer strategischen Neuausrichtung der europäischen Wirtschaftspolitik. Anders als Mario Draghi würde Gros den Fokus weniger auf einer breiten Industriepolitik-Förderung, sondern vielmehr auf die gezielte Investition in Zukunftsbranchen, die in der EU bislang vernachlässigt wurden. Dies umfasst vor allem den Technologiesektor, insbesondere die Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT), deren mangelnde Förderung einen wesentlichen Faktor für den Wettbewerbsunterschied zwischen der EU und den USA für ihn darstellt.

Gros hebt hervor, dass die EU im Bereich der verarbeitenden Industrie und beim Export weiterhin stark sei und keinen direkten Nachteil gegenüber den USA verzeichne – vorausgesetzt, der ICT-Sektor werde nicht berücksichtigt. Der entscheidende Wachstumsunterschied liege für ihn in den Quellen und dem Bereich der Investitionstätigkeiten. Während die öffentlichen Ausgaben für Forschung und Entwicklung in beiden Regionen ähnlich hoch seien (ca. 90 %), klaffe eine große Lücke bei den privaten Investitionen: In den USA betragen diese 2,3 Prozent des BIP, in der EU hingegen nur 1,3 Prozent.

In den Jahren 2003 bis 2022 lag der europäische Fokus von Forschung und Entwicklung vor allem auf mid-tech-Sektoren, wie der Automobilbranche, währen in den USA ein Wandel hin zur Förderung von Hightech- und Software-Unternehmen stattfand. Gros spricht hier von einem "Mid-Technology-Trap" in der EU, der u.a. das Wachstum hemme. Um dieses Problem zu überwinden, müsse die EU von einem allzu vorsichtigen Ansatz (Precautionary Principle) wegkommen und stattdessen mehr Risikokapital bereitstellen, um Investitionen in innovative Geschäftsmodelle zu fördern.

Die österreichische Geschäftsführerin von ams OSRAM, Karin Ronijak, zeigte ein weiteres Problem auf. Die ausbaufähige Auszahlung der Fördermittel. Beispiel European Chips Act (EU) 2023/1781). Erstmalig angekündigt wurde er von Kommissionspräsidentin von der Leyen im Oktober 2021. Ein halbes Jahr später folgte der Entwurf der Europäischen Kommission. Die Trilog-Verhandlungen dauerten bis zum 18. September 2023 an, gefolgt von einer weiteren Umsetzungsfrist. Als Geschäftsführerin eines Halbleiterunternehmens könne sie nicht zwei Jahre oder länger auf Investitionen in einer sich schnell wandelnden Branche warten. Hier sei mehr Tempo gefragt.

Jennifer Rosenheimer, Unternehmerin im Bereich Medizintechnik und IHK-Ehrenamt des Ausschusses für Außenwirtschaft, ergänzte diesen Aspekt, indem sie auf die bürokratischen Hürden einging, die besonders KMUs in der EU belasten. Sie kritisierte die komplizierten und aufwendigen regulatorischen Anforderungen, wie etwa die EU-Medizinprodukteverordnung, die sie zwingt, ihre Produkte alle fünf Jahre neu testen zu lassen – trotz makelloser Leistung ihrer Produkte. Solche Anforderungen stellten eine erhebliche Belastung für kleine und mittelständische Unternehmen dar und gefährdeten die Innovationskraft und Gründungsaktivität in der EU. Besonders im Vergleich zu den USA bemängelte sie die unzureichende Transparenz und fehlende zentrale Bereitstellung von Informationen in der EU.

Ursula von der Leyen kündigte den Bürokratieabbau als Schwerpunkt ihrer Arbeit für ihre neue Amtszeit an. Laut Referatsleiter Ralph Schmitt-Nielson von der Generaldirektion für Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU von der Kommission sei geplant, Berichtsverpflichtungen insbesondere für KMUs um 25-35 Prozent zu senken. Um die Sorgen der Unternehmen besser zu verstehen, seien Veranstaltungen wie diese vom European Entreprise Network geförderten Austauschmöglichkeiten notwendig, so Schmitt-Nielson. Auch Gros begrüße solche Maßnahmen und mahnte, dass solche Ankündigungen auch bei den Unternehmen spürbar ankommen müssen. 

Wenn Fachkräftemangel auf Bürokratie trifft
Schwierigkeit, qualifizierte Fachkräfte anzuwerben. Dass Europa einen Skills Gap in der IT sowie ein Demografie Problem hat, sei bekannt. Es gebe kaum ein EU-Mitgliedsland, das nicht davon betroffen sei und Maßnahmen im Zuge Europas Digitalen Dekade unternehme. Bis diese Wirkung zeigen, können Unternehmen nicht immer warten. Jennifer Rosenheimer sei selbst aktiv geworden. Das Mammendorfer Institut für Physik und Medizin GmbH bilde mittlerweile selbst Mitarbeiter aus und versuche via Social Media, Arbeitssuchende vom Unternehmen zu überzeugen. Doch auch sie sei auf Fachkräfte außerhalb Europas angewiesen. Interessenten kommen u.a. aus Indien, mittels der Blue Card, wobei die Visumsausstellung weitaus mehr Zeit in Anspruch nehme als die Ausländerbehörde vorgäbe. Ein Visumsantrag sei in der Vergangenheit abgelehnt worden. Daran hingen auch persönliche Schicksalsschläge für die Menschen, die bereit seien, ihre Heimat zu verlassen, um in Deutschland ein neues Leben aufzunehmen. Für Frau Ronijak beginne der administrative Spießrutenlauf erst mit der Ankunft der ausländischen Fachkräfte in Österreich. Zudem brauche es eine freundlichere Willkommenskultur und darauf abgestimmte Infrastruktur wie internationale Schulen.

Wünsche für die Zukunft
Am Ende stellte Moderator Köberl den vier Podiumsdiskutanten eine abschließende Frage: Welchen Wunsch haben sie für die Zukunft der EU?

Ralph Schmitt-Nielson: "Mehr Mut, auch die Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen."
Karin Ronijak: "Mehr Tempo und Mut zur Lücke."
Jennifer Rosenheimer: "Mehr Innovation und vereinfachte Gesetzgebung."
Daniel Gros: "Die Wirtschaftspolitik ist ein Marathon, kein Sprint. In einer sich stark verändernden Welt braucht es Raum für Neues, auch bei Technologien, was im Umkehrschluss heißt, dass alte Prozesse oder Regeln weichen müssen."

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