Europas härteste Prüfung
Der Titel der Online-Diskussion klang nüchtern: „KMU-Strategie und Recovery Plan – Herausforderungen für KMU“. Gleichwohl packten die bayerischen IHKs am 12. November 2020 mit diesem Thema in Brüssel ein heißes Thema an.
Zum Mitschnitt der Veranstaltung Agenda Brüssel 12.11.2020Helfen neue EU-Strategien dem Mittelstand aus der Corona-Krise? Spannende Online-Diskussion der bayerischen IHKs und der Wirtschaftskammer Österreich in Brüssel
Unterstützt wurden die IHKs von bewährten Veranstaltungspartnern: der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ), der Vertretung des Freistaats Bayern in Brüssel und dem Enterprise Europe Network (EEN). Ursprünglich war die Diskussion schon im März angesetzt, aber die Corona-Pandemie hatte die Terminverschiebung erzwungen. Das Thema hat seit dem Frühjahr noch einmal deutlich an Brisanz gewonnen. Das zeigte auch die Resonanz. Über 300 Teilnehmer sahen per Stream zu. Sie erlebten eine spannende Debatte über einen sehr komplexen Zusammenhang.
1. Corona bedeutet für Europas Wirtschaft den härtesten Einbruch seit 70 Jahren. Die Pandemie bedroht die 25 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen in Europa und rund 100 Millionen Jobs. Bayerns Wirtschaftsstaatssekretär Roland Weigert (Freie Wähler) sprach in seiner Videobotschaft von einer „extremen Belastung“. Vielen Unternehmen gehe die Krise bereits an die Substanz. Wie schlimm die Lage für die Betriebe ist, dafür fehlen der EU-Kommission verlässliche Zahlen. Kristin Schreiber, Direktorin für KMU-Politik bei der Europäischen Kommission, zitierte Umfragen. Demnach hat mehr als die Hälfte der europäischen KMU Hilfen aus dem EU Corona-Rettungsschirm abgefragt oder hat vor, das zu tun. 38 Prozent der österreichischen Betriebe halten einen Stellenabbau für unvermeidbar.
2. Mit einem Wirtschaftseinbruch von 5,5 Prozent kommt Deutschland im EU-Vergleich glimpflich durch die Krise. Die Bundesregierung pumpt rund 1,2 Billionen Euro in die eigenen Unternehmen. Kein anderes Land Europas ist dazu fähig. Deshalb bestritt in der Debatte niemand, dass die EU für Europas KMUs die Dinge in die Hand nehmen muss. Die EU will sich für die Initiative „NextGenerationEU“ 750 Milliarden Euro vom Kapitalmarkt besorgen. Rechnet man langfristige Hilfen aus dem EU-Haushalt hinzu, stehen für die Erholung Europas nach Corona 1,8 Billionen Euro bereit. Gewonnen ist damit nach Ansicht von Österreichs Europaabgeordneter Angelika Winzig (ÖVP) aber noch nichts. Winzig sagte, nun müsse man gemeinsam dafür sorgen, dass das Geld auch schnell bei den Firmen ankomme. Was derzeit für politische Konflikte sorgt: Diese Hilfen sollen nur EU-Länder erhalten, die alle Kriterien eines Rechtsstaates erfüllen.
3. Die EU-Kommission hat das Problem der Bürokratie-Belastung für den Mittelstand offenbar klar erkannt. Mariana Kühnel, Generalsekretär-Stellvertreterin der WKÖ, erklärte, sie verspreche sich viel von laufenden EU-Initiativen. So soll das REFIT-Programm kleine Unternehmen vor der Überregulierung ebenso schützen wie Fit for Future Platform: eine Expertengruppe, die die Arbeit der Kommission wirtschafts- und bürgerfreundlicher machen soll. Die KMU-Strategie könnte den Bürokratieabbau beschleunigen. So soll ein „KMU-Beauftragter“ innerhalb der Kommission ein Veto-Recht gegen Gesetze erhalten, die kleine Firmen mit Bürokratie belasten.
4. Die nationale Gesetzgebung ist Hauptursache für Handels- und Geschäftshürden, unter denen Europas Betriebe leiden. Frankreich etwa nutzt rigoros arbeits- und sozialrechtliche Vorschriften, um Dienstleister der EU-Nachbarländer fernzuhalten. Florian Frauscher, Sektionsleiter im österreichischen Bundesministerium für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort und KMU-Envoy, klagte, mit Corona habe die EU einen „schlimmen Rückfall“ erlebt. Zu Beginn der Pandemie sei es im Binnenmarkt zu Exportbeschränkungen für Medikamente, Schutzkleidung und Schutzmasken gekommen. „Dazu darf es nicht mehr kommen“, meinte Frauscher.
5. KMU-Strategie und Recovery Plan haben das Ziel, Europas Wirtschaft digitaler und krisenfester zu machen. Krisenfest heißt vereinfacht gesprochen: Die Unternehmen mit ausreichend Liquidität versorgen. Das befand die Expertenrunde für ebenso richtig, wie die Förderung der Digitalisierung des Mittelstands. In Schnellkursen sollen Unternehmer fit gemacht werden für das digitale Zeitalter. WKÖ-Sprecherin Mariana Kühnel meinte, die „digitale Transformation“ werde auch Mittelständlern zu Effizienzsprüngen verhelfen.
6. Ingo Schwarz, Vollversammlungsmitglied der IHK München, erklärte, was Bayerns Wirtschaft derzeit stark beschäftigt: Es ist der „Green Deal“, der neue Masterplan der EU, dem alle anderen Initiativen untergeordnet werden. Was die EU zentral steuern will, ist nicht nur der Wandel der Produktion, sondern auch der komplette Umbruch des Finanzsystems mit dem Übergang zu Sustainable Finance. Schwarz stellte die grundsätzliche Frage: Ist es sinnvoll, die Unternehmen mitten in der schlimmsten Krise der EU-Geschichte mit ehrgeizigen Nachhaltigkeitszielen zu belasten? Schwarz forderte einen „Belastungsstopp“ für die kommenden zwei Jahre. Ansonsten drohe das Gegenteil von dem, was die EU eigentlich erreichen wolle: mehr Bürokratie, Risiken für die Finanzierung, ein Verlust von Betrieben und Arbeitsplätzen.
7. Die Europaabgeordnete Henrike Hahn (Grüne) verteidigte dagegen den Green Deal. Sie sagte, man müsse jetzt beides zugleich tun: den Unternehmen schnell helfen und in die Zukunft investieren. Und die könne nur nachhaltig sein.
Große und gute Ziele hatte die EU-Kommission immer schon. Dass viele scheiterten, lag häufig auch am Widerstand der Mitgliedsstaaten. Folglich konnte die Online-Debatte nur das vorläufige Urteil liefern: Ja, KMU-Strategie und Recovery Plan könnten Europas Firmen entscheidend helfen, nur kommt es jetzt auf die Umsetzung an. Zustimmung erhielt Henrike Hahn für ihren Vorschlag, dabei in erster Linie auf Unternehmerexpertise zu bauen. Ihr Argument: Niemand ist näher dran an der Praxis, und niemand reagiert schneller auf Umbrüche des Marktes als der Mittelstand. Die EU sei folglich gut beraten, von den Corona-Erfahrungen der Unternehmer zu lernen und die Industrie- und KMU-Strategie noch einmal zu überarbeiten.
Quellen: WKÖ, EU-Wirtschaftspanorama 37/2020, Bericht der Vertretung des Freistaats Bayern vom 16.11.2020, Mitschnitt der Veranstaltung, eigene Aufzeichnungen